Kritische Stimmen

 

Leichen im Internet

Nach den neuesten Berechnungen des digitalen Statistikservers Bremen steigt der Anteil der "toten" Homepages drastisch an: der momentane Anteil wird auf etwa 10 Prozent geschätzt, und wird sich Prognosen zufolge in den nächsten zwei Jahrzehnten auf unglaubliche 50 Prozent steigern. "Wie auf einem Friedhof" fühlen sich laut letzten Meinungsumfragen die Jugendlichen von Heute. Die seinerzeitige Euphorie über das Internet weicht beklemmender Totenstille in den Medien.

Wie konnte es dazu kommen? Das Medium Netz hat schon längst sein hippes, modernes Image verloren und führt nun einen immer aussichtsloser werdenden Kampf gegen den endgültigen Abstieg: in absehbarer Zeit schon werden die verstorbenen Internetnutzer in der Mehrzahl sein. Eine gesetzliche Regelung in naher Zukunft ist nicht zu erwarten.

Hinter den Kulissen kämpfen die Provider verbissen um Anerkennung ihrer sogenannten Milleniumsverträge, die Internetpräsenz auf zumindest 500 Jahre ab Todeszeitpunkt garantieren. Die Finanzierung erfolgt ja bekanntlich über Lebensversicherungen und Nutzungsrechte an Immobilien. Die Altersvorsorge wurde um eine neue, interessante Dimension bereichert. Immer mehr alte Leute sparen für ihre EWIGE HOMEPAGE , was teilweise zu bedenklichen innerfamiliären Auseinandersetzungen führt.

In Amerika avancierte unlängst der Provider DIE NOW zum größten Immobilientycoon; immer mehr ältere Mitbürger setzen DIE NOW zum Haupterben ein. "So kann ich sicher gehen, daß mein Andenken in Ehren gehalten wird. Meine Tochter stellt maximal ein 13 x18 Foto von meinem letzten runden Geburtstagspart auf, wenn ich einmal nicht mehr bin. DIE NOW hingegen reserviert für mich 20 MB Webspace – mit Photos aus meinen besten Tagen. Da wird einem die Entscheidung wirklich leicht gemacht"

Das Phänomen an sich ist nicht neu: die Menschen haben seit jeher versucht, Erinnerungen an ihre Ahnen zu bewahren. Malerei, Bildhauerei und besonders die im 18. Jahrhundert so beliebten Totenmasken legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Gut gehütete Fotoalben mit Bildern der lieben Toten gibt es auch heute noch in praktisch jeder Familie, wenn diese auch schon nach und nach einem Archiv mit Foto-CD’s weichen müssen.

Viele ältere Leute sehen in ihrer Hompage einen digitalen Grabstein, den sie noch zu Lebzeiten zurechthauen können. Stunden, die früher im Kreis de Familie oder mit der Betreuung der Enkelkinder verbracht wurden, werden nun aufgewandt, um ein möglichst umfassendes Bild des bald auslaufenden Lebens zu gestalten.

Dabei bieten die Provider gegen Aufpreis auch die Hilfe ihrer Experten an. Sogar das ethisch äußerst umstrittene Schnellservice für Todkranke und Sterbende erfreut sich enormer Beliebtheit, seit Computerräume in allen Hospizen zur Basisausstattung gehören. "Newsgroups lesen bis zum letzten Atemzug" – die aufsehenerregende Spendenkampagne der Caritas ist wohl noch den meisten von uns in deutlicher Erinnerung.

"Er war so ein guter Mensch, von seinen Moralvorstellungen können die Leute noch in hundert Jahren profitieren. Es wäre geradezu eine Gemeinheit, wenn die Regierung die zwangsweise Auflösung der Homepages 50 Jahre nach dem Tod ihrer Besitzer verfügt."

Die Betroffenen konnten auch durch die großzügigen Übergangsregelungen nicht besänftigt werden.

Ein Regierungssprecher dazu: "Uns ist der massive Widerstand von Teilen der Bevölkerung bezüglich unserer Pläne durchaus bewußt. Dennoch meinen wir, daß sich die Leute wieder mehr auf das Hier und Jetzt konzentrieren sollen. Das Internet darf nicht zum Massengrab verkommen, darüber sind sich alle Experten einig."

Wirklich alle? Ein bekannter Historikprognostiker nahm unlängst dazu Stellung: "Auf einer experimentellen Ebene sehen wir auch die Möglichkeit, daß das Internet tatsächlich zu einem riesengroßen, historischen Archiv wird, und als solches vermehrt für vergleichende Ahnenforschung genützt wird. All die anderen Funktionen könnten parallel mit dem Ansteigen der toten Homepages auf ein neues Medium verlagert werden. Ein alternatives Netz für Lebendige stellt dabei in unseren Augen einen durchaus gangbaren Weg dar. Vielleicht wird aber auch in den kommenden Jahrhunderten die Gedankenübertragung endlich perfektioniert und wir könne auf das Internet zur Nachrichtenübermittlung ebenso leichten Herzens verzichten wie auf die Höhlenmalerei, das Morsealphabet oder die Postwurfsendungen, um nur einige zu nennen. "

Noch herrscht also Unklarheit, wie es weitergehen wird. Doch es ist bereits jetzt abzusehen, daß ein einheitliches Vorgehen der Staatengemeinschaft auch in diesem Punkt nicht zu erwarten ist. Analog zu den seinerzeitigen Steuerparadiesen (Monaco, Liechtenstein, diverse Südseeinseln) sind bereits einige Paradiese der Toten im Entstehen: findige Provider kaufen sich schon jetzt eigene kleine Inseln im Südpazifik, um für den Tag X gerüstet zu sein, an dem hier in Europa die ersten Bestimmungen zu den Übergangsregelungen in Kraft treten. Es lohnt sich also durchaus noch, eine eigene, zukunftsweisende Homepage zu designen!

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